Wassili Grossmans epochaler sowjetischer Roman »Leben und Schicksal« feiert heute in Moskau endlich die verdienten Triumphe
Von Oleg Jurjew
Quelle: DIE ZEIT, 24.01.2008 Nr. 05
Diese neue, überarbeitete und ergänzte Ausgabe eines der berühmtesten Werke der sowjetischen Literatur ist ein großes Ereignis. Denn dieses vollblutige, über tausend Seiten umfassende große Werk voller Leiden und Freuden, Kriegsszenen und Gewissensfragen hat eine tragische Vorgeschichte. Der 1960 vollendete Roman wurde einer Moskauer Zeitschrift angeboten und von dort ans ZK der KPdSU weitergeleitet. Die Folge: die vollständige Konfiszierung. Es war die zentrale Botschaft des Buches – dass die nationalsozialistischen und die sowjetischen Verbrechen miteinander vergleichbar sind –, welche die Katastrophe herbeiführte. Der Autor starb 1964 in Sorge um sein beschlagnahmtes und unpubliziertes Werk. Erst 1980 erschien es in einem Exilverlag. Heute wird das Buch in Russland in Massenauflagen gedruckt. Seine Bühnenadaption ist ein Publiku*msmagnet und der Kritikerliebling der letzten Moskauer Theatersaison.
Wer ist Wassili Grossman und warum wurde er zu einem der berühmtesten literarischen Dissidenten? Als Grossman 1941 als Zeitungskorrespondent in den Krieg zog, war er noch völlig »systemgläubig«. Er wurde 1905 in einer jüdischen Familie geboren, die sich den »revolutionären Werten« der Sowjetunion verpflichtet fühlte.
Seine Kriegstagebücher zeigen, wie langsam und mühevoll sich seine politische Desillusionierung vollzog. Diese Tagebücher wurden vom englischen Historiker Antony Beevor unter dem Titel Ein Schriftsteller im Krieg herausgegeben, in Form eines kolossalen Rundfunkfeatures: Längere Tagebuchpassagen wechseln sich mit eigenen, meist kundigen (leider nicht ganz fehlerfreien: Alexej Tolstoi war KEIN Cousin von Leo Tolstoj!) Kommentaren ab. Eine wertvolle Begleitlektüre zum großen Roman Leben und Schicksal sind sie dennoch. Hier sieht man, wie Grossman fast widerwillig zu einem seiner größten Themen kommt: zur Judenvernichtung.
Grossmans erster Literaturerfolg, die Novelle In der Stadt Berditschew (1934), hat für die aussterbende Welt des jüdischen Stetls nichts als milde Ironie übrig. Die Revolution, so glaubte er, würde alle Völker und Rassen miteinander verschmelzen und einen »neu erschaffenen« Menschen hervorbringen – und zu diesen neu erschaffenen Menschen zählte der junge Grossman sich zweifellos selbst. Der Krieg zerstörte diese Zuversicht. Grossmans Mutter wurde im von den Deutschen besetzten Berditschew ermordet, er sah die Vernichtungslager in Polen (sein Bericht über Treblinka wurde dem Nürnberger Tribunal vorgelegt).
Die offizielle sowjetische Position war: keine Einteilung der Opfer in verschiedene Kategorien; es wurden nach offizieller Darstellung nur friedliche sowjetische Bürger von den Faschisten vernichtet. Grossman wusste, dass die friedlichen sowjetischen Bürger jüdischer Abstammung nicht ohne die enthusiastische Teilnahme anderer weniger friedlicher sowjetischer Bürger in der Ukraine vernichtet worden waren. Auch das veranlasste ihn, beide totalitäre Systeme, die einander Auge in Auge im Krieg gegenüberstanden, ineinander zu spiegeln.
Nicht nur dieser Vergleich machte sein Buch für die Machthaber, sogar die des Chruschtschowschen Tauwetters, inakzeptabel. Es gab noch einen anderen Grund: das Judentum des Autors und das Genre des Buches. Der berühmte »sozialistische Realismus« war eher ein »sozialistischer Klassizismus« – mit dem 19. Jahrhundert im Rückspiegel (das somit eine Art Antike darstellte) und, dementsprechend, mit einer Hierarchie der Gattungen ausgesstattet. Ganz oben in der Hierarchie rangierte der »Tolstojsche sozial-historische Panorama-Roman«, nicht jeder Roman Tolstojs, nur einer: Krieg und Frieden. Schriftsteller standen im Wettbewerb: Wer würde Krieg und Frieden des 20. Jahrhunderts schreiben? Die Schlacht um Stalingrad war besonders gut geeignet, Kern des neuen Epos zu sein. Autoren, die in Stalingrad dabei waren, fühlten sich besonders im Vorteil. Auch Grossman, der bereits 1952 einen Stalingrad-Roman im Rahmen sowjetischer Ästhetik und Ideologie vorgelegt hatte (»Für die gerechte Sache«). Doch Grossman taugte nicht als neuer Tolstoj: kein Parteimitglied, kein Stalinpreisträger, ein Jude. Nach den Regeln der Zunft musste er mäuschenstill mit dem, was er hatte, vorliebnehmen.
Grossman verarbeitete den offiziellen Misserfolg von Für die gerechte Sache in Leben und Schicksal, dessen Hauptfigur, der Physiker Strum, eine wichtige wissenschaftliche Entdeckung macht, die ihm große Unannehmlichkeiten bringt, bis Stalin ihn persönlich in Schutz nimmt (was bei Grossman allerdings nicht der Fall war). Als Gegenleistung muss der aufrichtig dankbare Strum einen infamen Brief gegen die jüdischen Intellektuellen unterzeichnen. Der Roman ist autobiografisch gefärbt . Viele Leidensstationen des Autors sind auch die seines Protagonisten: Die Kriegsszenen – das bezeugen Grossmans Tagebücher – sind sehr erlebnisnah dargestellt und gehören zum Eindrucksvollsten, das über den Zweiten Weltkrieg je geschrieben wurde. Nur von Gulag und deutschen KZs schrieb Grossman (Gott sei Dank!) nicht aus eigener Erfahrung. So entsteht aus unzähligen Strängen ein »sozial-historischer Panorama-Roman« tolstojscher Prägung, in dessen Universum man völlig eintaucht.